60 Jahre gesellschaftliche Teilhabe
1964 wurde in Deutschland das Gesetz zur gesellschaftlichen Eingliederung von Menschen mit Beeinträchtigung eingeführt. Für die Behindertenpolitik markierte es einen Wendepunkt. Wie ging es weiter auf dem Weg zur vollständigen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, der bei reinen „Verwahrung“ angefangen hat?
„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“, das ist der Wortlaut von Artikel 3 im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Wann wurde diese Ergänzung als Diskriminierungsverbot im Grundgesetz verankert? Was schätzen Sie? Doch dazu gleich.
Wir nehmen ein Gesetzesjubiläum zum Anlass, um uns die Entwicklung der Hilfe für Menschen mit Beeinträchtigungen in einer Art Zeitstrahl anschauen – quasi von der reinen Verwahranstalt bis zur individuellen Assistenz und dem Fokus auf ein selbstbestimmtes Leben in der Gemeinschaft, barrierefreier Zugang eingeschlossen.
Krankheit und Behinderung als Strafe Gottes
Furcht, Unwissenheit und Stigmatisierung führten in früheren Zeiten dazu, dass vor allem geisteskranke Menschen oder Epileptiker ausgegrenzt wurden. Mehr noch: Aberglaube spielte eine mitunter grausame Rolle. Epilepsie wurde als „dämonische Besessenheit“ angesehen oder als Strafe für Sünden. Viele Familien versteckten sogar betroffene Kinder oder die Menschen wurden in großen, oft isolierten Anstalten untergebracht, abgeschottet vom Rest der Welt. Es ging eher um eine Verwahrung als um eine Betreuung oder Heilung.
Ab 1848: Die Pioniere
1848 wurde das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche gegründet, gefolgt vom deutschen Caritasverband 1897, Blinden- und Sehbehindertenvereinen oder dem Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband 1912, der Arbeiterwohlfahrt 1919, dem paritätischen Wohlfahrtsverband 1924 oder der Lebenshilfe 1958. Auch Organisationen wie das Deutsche Rote Kreuz, gegründet 1863, haben eine lange Tradition in der Gesundheits- und Sozialarbeit.
1867: Bethel bietet ein menschenwürdiges Leben in der Gemeinschaft
Friedrich von Bodelschwingh, evangelischer Pastor und Theologe, setzte sich für die Ärmsten und Schwächsten ein und erkannte, dass die stigmatisierenden Ansichten über Epilepsie und Behinderungen auf Unwissenheit und Vorurteilen beruhten. Er glaubte fest daran, dass jeder Mensch – unabhängig von einer Behinderung oder Krankheit – mit Würde und Respekt behandelt werden sollte. 1867 gründete er die Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel als Teil der Diakonie.
Im Lauf der Zeit wurde Bethel vom Zufluchtsort zum Zuhause: Auf Basis der diakonischen Tradition ging es schon damals darum, die Menschen aktiv in die Gemeinschaft zu integrieren und sie auch geistig, seelisch und sozial zu unterstützen. Arbeit und Beschäftigung wurden zentrale Bestandteile des Lebens.
1953: Schwerbehindertengesetz
Machen wir einen Sprung nach vorne, zunächst in die erste Hälfte des 20.sten Jahrhunderts, in der es immer noch gesellschaftliche Vorbehalte gab. Behinderungen sollten vom öffentlichen Leben ferngehalten werden, etwa in Schulen, auf dem Arbeitsmarkt und im Alltag. Auch karitative und kirchliche Einrichtungen boten meist eine isolierte Unterbringung und Betreuung an. Im April 1953 wurde das Schwerbehindertengesetz (SchwbH) als erstes umfassendes Gesetz eingeführt, das sich speziell auf die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Berufsleben bezog.
Meilenstein 1964: Ein Hoch auf 60 Jahre gesetzlichen Anspruch auf Unterstützung!
Die Hilfe für Menschen mit Beeinträchtigungen hat sich im Lauf der Zeit erheblich weiterentwickelt. Als Meilenstein gilt die Einführung des Rechts auf gesellschaftliche Eingliederung: Damit wurde erstmals ein Anspruch auf Unterstützung geschaffen und eine staatliche geregelte Behindertenpolitik begann.
Das Jubiläum inspiriert uns dazu, eine hypothetische Kurve aufzuzeichnen. Sie beruht in Teilen auf Annahmen, da konkrete Zahlen fehlen, zeigt die grundsätzliche Entwicklung jedoch sehr deutlich.
Deutlicher Boom ab 1964
Wir lassen die Kurve 1848 mit der Gründung der Diakonie beginnen und sehen eine langsame Zunahme der Einrichtungen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Nach der gesetzlichen Verankerung im Jahr 1964 lässt sich ein wahrer Einrichtungs-Boom verzeichnen: Staat und soziale Organisationen investierten verstärkt in Werkstätten, Wohnheime und Bildungsangebote.
Allerdings war die Förderung auch in den Folgejahren vor allem auf Fürsorge und Versorgung ausgerichtet. Menschen mit Beeinträchtigungen lebten nach wie vor in speziellen Heimen oder besuchten Förderschulen. Aber: Die Palette an Dienstleistungen, abgestimmt auf die verschiedenen Lebensphasen und Bedürfnisse der Menschen, nahm zu, die Unterstützung wurde professioneller und der Ruf nach Inklusion und Selbstbestimmung wurde immer lauter.
In der chronologischen Einordnung folgen:
- 1994: Das Grundgesetz mit der Ergänzung im anfangs erwähnten Artikel 3: Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
- 2001: Das Sozialgesetzbuch IX zur Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen. Damit wurden Rechte auf Unterstützung und Eingliederung in Arbeit, Bildung und gesellschaftliches Leben rechtlich verankert.
- 2002: Das Bundesgleichstellungsgesetz für den öffentlichen Raum, das sich unter anderem für Barrierefreiheit einsetzt.
- 2006: Das Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, dasMenschen vor Diskriminierung auch in Bereichen des täglichen Lebens, insbesondere im Arbeitsrecht, schützt.
- 2016: Das Bundesteilhabegesetz, das vorsieht,dass Menschen mit Beeinträchtigungen selbst wählen können, wie sie ihre Wohn- und Lebenssituation gestalten möchten und welche Art von Unterstützung sie bevorzugen. Ein Paradigmenwechsel zu mehr Selbstbestimmung und Inklusion!
Weitere Gesetze betreffen Umsetzungen in den Bundesländern oder die Eingliederung in den Arbeitsmarkt.
Und heute?
Wenn wir uns zentrale Entwicklungen der großen Organisationen wie beispielsweise der Lebenshilfe anschauen, sehen wir vor allem diese drei Bereiche:
- Inklusion: Die Integration von Menschen mit Beeinträchtigungen in das allgemeine Bildungssystem und in den Arbeitsmarkt ist ein wichtiger Schwerpunkt.
- Selbstbestimmung: Menschen mit Beeinträchtigungen soll ein möglichst eigenständiges Leben ermöglicht werden.
- Politische Arbeit: Schlüsselorganisationen kämpfen für die Rechte und die gesellschaftliche Teilhabe der Menschen, die sie betreuen.
Trotz dieser Fortschritte ist vor allem das Inklusionsziel noch lange nicht erreicht. Menschen mit Beeinträchtigungen leben und arbeiten nach wie vor eher in separaten Einrichtungen und sind nur teilweise in das reguläre gesellschaftliche Leben integriert. Wir arbeiten weiter an barrierefreien Zugängen im öffentlichen und privaten Bereich. Und: Einrichtungen kämpfen mit schwierigen finanziellen Rahmenbedingungen.
Wenn ein Mini-Bus die Teilhabe-Mission unterstützt
Genau an dieser Stelle steigt Pro Humanis ein: Welche Produkte können die Mission der Einrichtungen unterstützen – wohlgemerkt: Produkte frei von Anschaffungskosten für die Einrichtung? Denn eines ist klar: Extras sind nicht drin, denn das geben die finanziellen Mittel nicht her.
Auf den Wunschlisten der angebotenen Sponsoring-Produkte ganz oben verzeichnen wir den Ford Transit Kombi als Gruppenmobil, vor allem mit sieben oder neun Sitzen, viel Stauraum und einer optional verfügbaren Rollstuhlrampe. Dass hinter dieser Mobilität auch ganz schön viel Inklusion und Teilhabe stecken können, zeigt der Blick in die Praxis.
Ein ganz besonderer Teil der Gesellschaft
„Wir organisieren Treffen mit Freunden oder Veranstaltungen, wir gehen zum Baden, machen Ausflüge“, berichtet uns beispielsweise die Lebenshilfe Sangerhausen, die Jugendliche und erwachsene Menschen mit Behinderungen schwerpunktmäßig am Nachmittag betreut. Durch das Gruppenmobil können sie weiter zuhause wohnen, denn Angehörige werden entscheidend entlastet, auch wenn es um Arztbesuche & Co. geht. Und wir erfahren auch Nachdenkliches, dass das Anrecht auf Teilhabe in einem besonderen Licht erscheinen lässt: „Unsere Schützlinge haben sich das nicht ausgesucht“, sagt uns eine Mitarbeiterin. „Wir vermitteln ihnen das Gefühl, dass sie Teil der Gesellschaft sind, und zwar ein ganz besonderer Teil.“ Und sie ergänzt: „Wir können froh sein, wenn wir gesund sind.“ Froh genug, um den weiteren Weg zur Integration der „besonderen Menschen“ tatkräftig zu unterstützen – unabhängig von Gesetzen und staatlicher Förderung?
Wenn Sie Unterstützung für Ihre soziale Einrichtung benötigen, zum Beispiel in Form eines Fahrzeugs, einer Erste-Hilfe-Ausstattung oder mehr, melden Sie sich gerne!
Quellen: Pflegemarkt, Statistisches Bundesamt, Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Lebenshilfe, Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge, UN-Behindertenrechtskonvention – Bericht des Deutschen Instituts für Menschenrechte